I racconti del Premio Energheia Europa

Nacht, Inna Stepankova

Erwähnung des Energheia Award Deutschland 2023

Nacht, sowie der Tag entsteht durch die Rotation der Erde um ihre eigene Achse, daher muss die Nacht
genauso gleich lang dauern wie der Tag. Ich fand aber immer, dass die Zeit nach dem Sonnenuntergang deutlich langsamer vergeht. In einer Nacht können so viele Dinge passieren, die niemals in einen Tag
hineinpassen würden.

Ein paar meiner besten Nächte hatte ich bei Ausstellungseröffnungen, wo ich tatsächlich viel zu oft
hingehe, manchmal viel mehr, als ich sollte. Ich könnte stattdessen mehr lesen, ins Kino gehen, oder auf
Dates aber nur bei Ausstellungen genieße ich wirklich die Zeit, da die Menschen dort normalerweise gut
gelaunt und leicht angetrunken sind, wodurch sehr interessante und vertraute Konversationen entstehen.

In einer solchen Nacht, ging ich zu einer Kunsteröffnung in ein Hotel, in dem jedes Jahr die Rauminstallationen von verschiedenen KünstlerInnen über drei Stockwerke (verteilt) präsentiert werden und lernte Marie und Lucy kennen, deren Geschichte mir bis heute in der Erinnerung blieb.

Irgendwie fühlte man sich sofort zur Marie hingezogen: War es ihr französischer Look oder ihre
Ausstrahlung, die einen dazu brachten, sie dauerhaft anzugucken? Ich hörte ihr zu, aber (gleichzeitig) auch nicht. Ich beobachtete sie.

Die Marie kam gerade zurück aus Paris, wo sie ihr dreimonatiges Praktikum in (dem Bereich)
Sozialwissenschaften absolvierte. Ihre Geschichte begann, wie immer – mit einem Mann, den sie
kennenlernte und der einen wirklich schönen Körper, guten Sinn für Humor und was auch immer noch hatte. Sie verliebte sich in ihn, obwohl er eine Freundin hatte und ein Künstler war, was zwangsläufig hieß – ihr nicht regelmäßig schrieb, manchmal die Verabredungen kurz davor absagte und keine festen Pläne für die gemeinsame Zukunft in Voraussicht hatte. Die gewöhnliche Geschichte einer unerwiderten Liebe, zu jemandem, der nicht bereit für eine Beziehung ist. „Inna“, sagte sie zu mir, „beginne nie eine Beziehung
mit einem Künstler!“

Sie erzählte in Details von ihrer missglückten Affäre und ich betrachtete dabei ihr Gesicht: Ihr blick hatte
etwas weiches, entspanntes, aber gleichzeitig etwas, wovor ich Angst hätte, wenn ich ein Mann wäre, ich
wusste in dem Moment aber nicht warum. Sie erzählte so lebhaft und aktiv, gestikulierte so dynamisch,
sodass sich unsere Blicke nur auf sie richteten. Ihre Freundin Lucy blieb hingegen unveränderlich ruhig,
still, etwas im Hintergrund, sie lächelte nett und bemühte sich beim Gespräch dabei zu bleiben und
zuzunicken, obwohl von ihrem Blick zu erkennen war, dass sie die Geschichte schon mindestens zehnmal
gehört hatte. Da sie den ganzen Abend kaum etwas sagte, wusste ich nicht, ob sie nicht darüber reden
wollte oder einfach nicht zur Wort kam.

„Was ist eigentlich deine Geschichte, Lucy?“, fragte ich sie, als eine Pause im Gespräch entstand.

Der Blick von Marie drehte sich zu ihr und wir sahen ein verlegenes Lächeln, ihre Lippen öffneten sich, um
darauf zu antworten oder die Antwort zu verweigern. Doch in diesem Moment kam eine Bekannte von mir und wie sich herausstellte, hatte sie, wie auch Marie, eine Affäre mit diesem Künstler, und das Gespräch setzte sich wieder fort. Wir gingen alle weiter durch die Ausstellung – von Zimmer zu Zimmer und ich fragte mich, ob die ganze Welt von Affären und Lästereien überfüllt ist oder ob es nur einen besonders erhöhten Wert in der Kunstwelt hatte.

Marie sah wirklich sehr gut aus, ihre schwarzen Locken umrandeten ihr Gesicht und ihr breites Lächeln
brachte auch meine Mundwinkel automatisch nach oben. Ich war aufmerksam, obwohl ihre Worte über
diesen Künstler mich nicht so wirklich interessierten. Mich interessierte mehr der Grund, warum sie ihn
wählte, wenn sie ohne diese Spiele und Lügen leben könnte, ohne diese Sorgen, die sie sich offensichtlich
zu oft machte, wenn er ihr die Tage lang nicht zurückschrieb. Sie könnte jeden anderen haben und
mit ihm sorgenlos und glücklich leben, entschied sich aber für diese Art Beziehung.

Nach ein paar Stunden und mehreren Drinks, gingen wir nach unten in die Hotelbar, in der wir meine
Nachbarn trafen und laut Musik hörten, bis die Polizei kam, sodass wir die Party zu uns ins Haus verlegen
mussten.

Nachdem wir alle in der Wohnung ankamen, machten wir es uns im Zimmer von meinem Nachbar
mit Getränken und Musik gemütlich. Im Laufe der Nacht sah ich Lucy und unseren gemeinsamen
Künstler-Freund Liam beide am Boden neben der geöffneten Balkontür sitzen und wie zwei verliebte
Teenager Lächeln und miteinander plaudern. Ihre Hände waren nicht zu sehen, berührten sich aber
offensichtlich unter der Decke, mit der sie sich vor der Kälte schützten. Marie, die neben den beiden saß,
schien schlagartig von etwas bekümmert zu sein, guckte vor sich hin und war gedanklich woanders. Sie
wurde plötzlich müde, obwohl sie noch vor kurzem so aktiv und gesellig war.

Mir fiel ein, dass sie zu dieser Ausstellung eigentlich von Liam eingeladen wurde. Hatte sie es vor, heute
Nacht, mit ihm den Ex-Liebhaber aus Paris zu vergessen?

Sie machte sich eilends auf den Weg nach Hause und Lucy schließ sich ihr an. Liam und Lucy umarmten
sich flüchtig mitten in dem Raum und ihre unter der Decke versteckten Gefühle blieben kaum mehr
sichtbar. Sie tauschten nicht ihre Nummer aus, sie küssten sich nicht zum Abschied. Als Lucy nach dieser
kurzen zurückhaltenden Umarmung wegging, kehrte Marie, die den Raum kurz davor verließ zurück. Sie
legte ihre Arme um Liam’s Hals und gab ihm einen stürmischen leidenschaftlichen Kuss. Keiner der Anwesenden schien es zu bemerken, aber ich, ich wusste deutlich was passieren wird und wunderte
mich nur wenig, als Lucy zurückkam, um ihren vergessenen auf dem Boden Schal abzuholen. Sie
ging an beiden vorbei, die keinen um sich bemerkten und zeigte kaum ihre wahren Emotionen. Ich fühlte
dennoch ihre Enttäuschung und Verzweiflung, ihre tiefliegende Wut hinter der Traurigkeit und auf einmal
glaubte ich zu wissen, was die Geschichte von Lucy war.